Das besondere Buch: Luisa Stenzel – Wilma und Wolf

Wilma und Wolf

»Wilma will ihre Großmutter besuchen, die in einem Häuschen im Wald lebt. Ausgestattet mit Kuchen, Wein und guten Ratschlägen macht sie sich auf den Weg. Im Wald und in der Märchenwelt kennt Wilma sich gut aus. Und so hat Wolf kein leichtes Spiel, als er Wilma begegnet. Denn die lässt sich nicht von freundlichen Worten täuschen. Wilma weiß, was Wölfe in Wäldern im Schilde führen …« (Klappentext: Wilma und Wolf, Luisa Stenzel)

 Rotkäppchen, ursprünglich von Charles Perrault publiziert, gehört neben Dornröschen, Schneewittchen und Aschenputtel zu den beliebtesten Märchen der Literaturgeschichte. Märchen, die noch heute jedes Kind kennt, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um eine der zahlreichen Adaptionen unserer Zeit – wie etwa der Film Red Riding Hood (USA 2011) oder eine der Kurzgeschichten Angela Carters (In: The Bloody Chamber And Other Storys, New York 1979) – handelt.

Abb. 1: Copyright by Round not Square

Das historische Rotkäppchen

Luisa Stenzels Wilma und Wolf gehört zu jenen Neuinterpretationen des historischen Stoffes und unterscheidet sich doch grundlegend von der bekannten Geschichte. Obschon »Wilma weiß, was Wölfe in Wäldern im Schilde führen«, tauchen die historischen Metaphern hier nicht auf. Sie gerieten – im Laufe der Jahrhunderte – weitestgehend in Vergessenheit (Vgl. Abbildung 3). Heute weiß kaum jemand, worauf das Märchen Perrault ursprünglich anspielte. So lautet die Moral der Geschichte:

»Hier sieht man, daß kleine Kinder, zumal junge Mädchen, wenn sie hübsch sind, fein und nett, sehr schlecht daran tun, jedwedem Gehör zu schenken, denn dann nimmt es nicht wunder, daß der Wolf so viele von ihnen frißt. Ich sage der Wolf,  weil nicht alle Wölfe von der gleichen Art sind. Da gibt es solche, die kein Aufsehen erregen und sich zuvorkommend, liebenswürdig und brav zeigen. Ganz zahm und gefällig folgen sie den jungen Damen in ihre Häuser und in ihre Gemächer – doch ach! wer weiß es nicht, daß die sanften Wölfe unter den Wölfen die allergefährlichsten sind.«(Aus: Rotkäppchen. Ein Märchen. In: Charles Perrault. Sämtliche Märchen. Stuttgart 1986.)

 Folglich – die Metaphorik des  Blumenpflückens, die unterschiedlichen Wege von Wolf und Rotkäppchen unterstützt diese Aussage – handelt es sich beim beliebten Märchen um eine Warnung vor der wölfischen Sexualität des Mannes, die in der Grimm’schen Fassung noch einmal zugespitzt wird, denn die Brüder Grimm lassen den Bauch des Wolfes mit Steinen füllen und verhöhnen mit diesem Symbol seine Unfruchtbarkeit.

Die Neuinterpretation: »Wilma und Wolf«

 Keine Sorge: Bei Luisa Stenzels Version sind alle sexuellen Anspielungen des 17. bzw. 19. Jahrhunderts  getilgt worden. Stenzel zeichnete mit Wilma und Wolf ein ausgesprochen schönes Kinderbuch mit comicrelevanten Elementen – ein kluges Rotkäppchen weiß sich gegen den missverstandenen Wolf zur Wehr zu setzen; eine Freundschaft wird entstehen, Vorurteile werden beigelegt. Somit handelt es sich bei Wilma und Wolf um eine kindgerechte, witzige und charmante Neuinterpretation (Texterin: Juliane Streich) des bekannten Märchens auf 11 Meter Papier. Die Illustrationen müssen dabei besonders hervorgehoben werden, denn Stenzel versteht es, sich in liebenswerten Details zu verlieren. Da findet sich etwa ein Hase, der Wilma immer mal wieder begegnet bzw. vor ihr flüchtet. Passagen die an die wunderbare Verschrobenheiten eines Janosch erinnern.

Wilma und Wolf.
Abb. 2: Simultanbild bei Wilma und Wolf von Luisa Stenzel. Der Leser folgt Wilma durch einen dunklen Wald, an anderer Stelle sieht man Wolfgang den Wolf (leider entgegen der Leserichtung) einer Straße folgen.

Unterschiede von Comic und Film

Um die Besonderheit einer Bildrollen würdigen zu können, soll ein kurzer Blick auf die technische Seite von Comics geworfen werden. Comics unterscheiden sich von Filmen auf folgende Art: Während ein Film eine Aneinanderreihung verschiedener Einzelbilder ist, die mit Hilfe eines technischen Gerätes so schnell abgespielt werden, dass eine optische Täuschung entsteht, müssen die verschiedenen Bilder im Comic aktiv miteinander verbunden werden. Die passive Rezeption wandelt sich zu einem aktiv-mentalen Vorgang. Die Zeitlichkeit des Films wird im Comic fast gänzlich eliminiert und tritt zugunsten der Räumlichkeit zurück. Ein Bewegungsablauf im Film wird nur durch zahlreiche Bilder möglich, die mit mindestens 12 Bildern pro Sekunde auf den Zuschauer treffen. Ein Comic hingegen benötigt lediglich zwei Bilder, um eine Bewegung zu erzeugen. Während ein Film (ohne technische Hilfsmittel) nicht rückwärts rezipiert werden kann, für den Rezipienten zu jeder Zeit eine Möglichkeit besteht, entweder Augen oder Ohren zu verschließen und dennoch der Handlung zu folgen, muss im Comic immer alles gelesen werden. Ja sogar die erneute Rezeption eines Bildes oder Sprünge in der Erzählung sind ohne weitere technische Manipulationen möglich.

Die Bildrolle: Bindeglied zwischen Comic und Film

 Wie aber werden Bildrollen rezipiert? Sie unterliegen anderen zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen, denn sie verbinden die Zeitlichkeit eines Films mit der Räumlichkeit eines Comics, wobei der Mensch immer noch aktiv rezipiert. Die Zeitlichkeit tritt wieder stärker hervor. Wird nun Wilma und Wolf gelesen, wickelt der Leser den bereits gelesenen Teil der Rolle um den »Buchdeckel«. Der Leser sieht folglich immer nur einen kleinen Teil der Geschichte, der sich zwischen zwei Rollen befindet. Zukunft und Vergangenheit bleiben verdeckt.

 Die Eigenheiten der Bildrollen eignen sich folglich perfekt zur kinematischen Darstellung gedruckter Bild-Textkombinationen. D. h. es besteht die Möglichkeit, eine Geschichte innerhalb eines einzigen Simultanbildes (mehrere Abbildungen einer Person bei verschiedenen Handlungen innerhalb einer einheitlichen Szene) zu gestalten. Luisa Stenzel reizt diese Möglichkeit nicht völlig aus, jedoch verwendet sie größtenteils lange Passagen, die auf diese Art gestaltet wurden (vgl. Abbildung 2).

Rotkäppchen Bilderbogen 1880
Abb. 3: Rothkäppchen. Robrahn & Co, Nr. 2368. Um 1880. (Ausschnitt)

Die Bildrolle als Trägermedium ist indes keine gänzlich neue Erfindung und kennt vor allem ein Vorbild aus Deutschland: Ludwig Emil Grimm, der immer im Schatten seiner berühmten Brüder stand und dessen bekanntestes Werk ein Portrait von Dorothea Viehmann in den Kinder- und Hausmärchen darstellt, zeichnete in seiner Freizeit einige Geschichten auf Bildrollen. Der Verlag Round Not Square, bei dem Stenzels Wilma und Wolf verlegt wird, verschreibt sich – der Name weist darauf hin – ganz dem Format der Buchrollen. Eine interessante Idee von Antonia Stolz und Ioan C. Brumer, die sich, Wilma und Wolf beweist dies eindrucksvoll, besonders für Comics und Bilderbücher eignet und neuen Wind in das alte Medium des Buchs bringt.

Wilma und Wolf sowie andere handgefertigte Bildrollen gibt es direkt auf der Verlagswebsite.

Hinweis: Alle Artikel wurden mir von der entsprechenden Plattenfirma / dem entsprechenden Verlag bzw. Verleih zwecks Rezension kostenlos zu Verfügung gestellt. Die Rezensionen sind demnach als Werbung zu betrachten.
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