Und es geht weiter mit der vorzüglichen Veröffentlichungspolitik aus dem Hause Jethro Tull. Nach den großartigen Ausgaben von Thick As A Brick, A Passion Play und WarChild folgt nun eines der Alben, die im Rückblick ein gewisses Schattendasein genießen. Minstrel in the Gallery war – auch wenn Ian Anderson es bestreitet, immer eher Solo- als Bandalbum, denn Anderson steht hier meist allein im Fokus. Nur er, seine unverkennbare Gitarre, hin und wieder Flöte. Die Band (hier übrigens zuletzt in der fantastischen Besetzung Barre – Evan – Hammond-Hammond – Barlow) und ein Streichquartett fügen sich erst spät in die Stücke ein. Ein Handgriff, den Anderson heute sehr kritisch sieht und den er seither nicht mehr anwendet (bedenkt man allerdings die großen Qualitätsunterschiede zwischen seinen Alben um 1975 und 2014, so könnte man vermuten, dass seine sehr eigenen Arrangements eine Menge der Magie ausmachen).
Dass die Band hier ein wenig abseits steht (die große Ausnahme bildet das Titelstück) bedeutet aber nicht, dass Minstrel in the Gallery ein schlechtes Album wäre. Nach dem etwas durchwachsenen WarChild ist er wieder ganz bei sich und präsentiert einige seiner stärksten Stücke. Obwohl er nicht müde wird, zu betonen, Jethro Tull sei eine Rockband und der Griff zu akustischem Material würde einige Fans verschrecken (gemeint sind wohl die amerikanischen Fans, die in der Band tatsächlich immer eine Rockband sahen und vor allem mit den Konzeptalben zauderten), sind es doch genau diese akustischen Songs, die bei vielen Fans hoch im Kurs stehen. Hier präsentiert er einige seiner schönsten Songs: Cold Wind to Valhalla, Requiem, One White Duck /010 = Nothing at All, Grace und natürlich den epischen Longtrack Baker St. Muse, der leider allzu oft übersehen wird und im Schatten von Thick As A Brick und A Passion Play steht (sich aber nicht verstecken muss).
Was aber bietet La Grande Édition abseits eines fantastischen Album (im Steven Wilson Remix)? Vielleicht erst einmal die Sachen, die man schmerzlich vermissen wird: Das rückseitige Cover findet sich hier nur in stark beschnittener Form. Historisch äußerst ungünstig. Darüber hinaus fehlen zwei Bonustracks der 2002er Edition, namentlich March The Mad Scientist und Pan Dance. Zwar handelt es sich hier nicht um unverzichtbares Material, schön waren sie aber allemal. An ihrer Stelle finden sich nun 6 mehr oder weniger sinnvolle Bonustracks. Neben dem bereits bekannten und sehr schönen Summerday Sands finden sich alternative Takes und drei BBC-Aufnahmen, von denen besonders Aqualung (und hier stimmen wir Anderson zu) unfassbar langweilig geriet. Was sich die Band hier gedacht hat, als das Tempo deutlich reduziert wurde, weiß selbst Anderson nicht mehr so genau. Das Highlight der Veröffentlichung hingegen findet sich auf CD/DVD2: Jethro Tull Live At The Palais Des Sports, Paris, 5th July 1975. Neu gemischt von Jakko Jakszyk in Stereo und Surround präsentieren sich Jethro Tull als die unfassbar gute Liveband, die sie immer waren. Jethro Tull veröffentlichten bisher ungern alte Liveaufnahmen, was wohl auf eine „Vergangenheit ist vergangen“-Mentalität zurückgeht und – im Hinblick auf die Qualität damaliger Aufnahmen – wirklich sehr schade ist, denn (langweilig-routinierte) Liveaufnahmen neueren Datums gibt es reichlich. Besonders an diesem Mitschnitt: Hier hört man erstmals Aufnahmen mit dem sagenumwobenen Streichquartett. Was die Damen hier den Stücken hinzufügen beschämt spätere Orchesterversuche Andersons (Orchestral Jethro Tull) in erheblichem Maße. Alles wirkt organisch – es passt. Die Stücke gewinnen an Intensität und man spielt nicht nebeneinander her. Und noch eine Besonderheit: Critique Oblique. Ein Stück des lange verleugneten A Passion Play, das Live wirklich beeindruckt (im späteren Verlauf wird auch noch The Story Of The Hare Who Lost His Spectacles angedeutet, aber von Aqualung abgelöst). Ein beeindruckendes Livedokument von historischer Relevanz.
Auf den beigefügten DVDs finden sich, wie immer, ein 5.1-Mix (im Rückblick auf Andersons früheren Meinung zu Surroundabmischungen ein Wunder), der originale Quad-Mix, der Originalmix des Albums, ein hochauflösender Stereomix und ein kleines Live-Video. Das 80-Seitige Booklet dokumentiert die Bandgeschichte von 1975 und bietet Einblick in das Mysterium Jethro Tull. Es kommen Weggefährten zu Wort (besonders das Interview mit Kenny Wylie sticht hier hervor), Anderson kommentiert das Album uvm. Abgesehen von zwei fehlenden Tracks und einem fehlenden Foto darf die Box also als essentiell bezeichnet werden und sollte in keinem Fanhaushalt fehlen.
Erschienen bei Crysalis / Warner.
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Woran ich glaube: Wir sollten im Leben danach streben, Narren zu sein. Immer auf der Suche, niemals am Ziel, von Neugier getrieben, mit offenen Augen, Ohren & Geist durch die Welt gehend.