Da steht es also vor einem, das große, gelbe Buch, mit dem zittrig gezeichneten, schwarz-weißen Vampir auf dem Cover. Jenem Vampir mit den großen, traurigen Augen, dem Nosferatu-Schädel und dem viel zu kleinen Mund. Ein Blickfang, ohne Frage. Eines der Bücher, die man – nur ihres Designs wegen – im Regal stehen haben will. Der Zeichner? Kein geringerer als Joann Sfar. Für deutsche Leser ein großer Unbekannter, einer der Autoren, denen es gelingt, an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland urplötzlich unsichtbar zu werden. Es erscheint gar so, als wären bestimmte französische Künstler allesamt wie Peter Schlemihl, als hätten Sie ihren Schatten an den Teufel verkaufte, um immer einen prall gefüllten Geldbeutel ihr Eigen nennen zu dürfen. Und so wirft Sfar hierzulande immer noch keinen Schatten, hat, wie seine Protagonisten Ferdinand oder Desmodus kein Spiegelbild, erinnert gar an den unsichtbaren Mann. In Frankreich hingegen gehört er (wie auch sein Kollege Baru) zu den Stars der Comicszene. Jenen Zeichnern, die von ihrer Kunst leben können. Etwas, was den wenigsten Künstlern in Deutschland gelingt. Wenn der Name dann doch einmal fällt, geschieht dies meist im Kontext des (ausgesprochen guten) Films Gainsbourg – Vie Heroique – oder (seltener) mit der Comicreihe Die Katze des Rabbiners. Abseits dieser Nischenprodukte herrscht, ob der Qualität seiner Werke, ein nicht nachvollziehbares Schweigen. Fast so, als würde man ihn vor den hiesigen Lesern geheim halten wollen, auf das er zu den ewigen Geheimtipps der Szene zähle.
Grand Vampir, inzwischen seit ein paar Monaten erhältlich und Sfars Magnum Opus um den in Litauen lebenden (hier seien die Frauen klug, blond und den untoten Franzosen weniger abgeneigt als in anderen Ländern), leicht depressiven Vampir Ferdinand, durchdringt langsam das Dunkel, nähert sich dem Licht der Feuilletons. Ob taz oder Rolling Stone – man ist begeistert. Denn in Sfars Welt geht es trotz des düsteren Settings – es ist ständig Nacht – äußerst bunt zu. Hier treiben neben Vampiren auch Baummenschen, Golems und allerlei Undefinierbares ihr Unwesen. Monster sind hier nicht einfach nur Monster, sondern Sinnbilder für menschliche Probleme, wie die Suche nach der Liebe (wer kann sich schon zwischen Ritalina und ihrer Schwester Aspirine 1 entscheiden, zwei Vampirschwestern, mit starkem Jean-Rollin-Bezug? 2) und dem Bestreben, dem Leben (bzw. Tod) einen tiefgreifenden Sinn zu geben. So muss der Grand Vampir Ferdinand, ein hoffnungsloser Romantiker, z.B. immer in den Menschen verliebt sein, von dem er sich nährt. Doch was geschieht, wenn er sich plötzlich in einen Vampir verliebt (Tipp: Es nennt sich „Genetischer Kurzschluss“)?
Es sind kleine Geschichten, denen sich Sfar annimmt. Eine Kreuzfahrt oder ein Museumsbesuch, Alltägliches. Am Anfang steht die Trennung Ferdinands von der Baumfrau Liou, die ihn zuvor mit seinem Freund Michael Douffon betrog, gleichzeitig aber auch vom Baummann umgarnt wird, der ihr jedoch lediglich als große, bemooste Schulter zum Ausweinen dient. Immer wieder verliert Ferdinand seine Freundinnen an seine besten Freunde, gerät schließlich an die falschen Frauen – mal stört ihn der Musik (Gothic findet er unerträglich) – mal der Kunstgeschmack. Sein Sinn für Ästhetik und Stil, seine sympatische Vorliebe für die Frère Jacques und Serge Gainsbourg steht ihm nicht nur einmal im Weg.
Was den Vampir von anderen Geschichten seiner Art abhebt wird nicht nur im Zeichenstil sichtbar, der sehr skizzenhaft ausfällt, aber dennoch durch seinen Detailreichtum besticht und – diesen Punkt kann man gar nicht oft genug loben – wirklich einzigartig sowie von reichlich Wiedererkennungswert ist. Immer wieder finden sich kleine Monster in den Panels, verschrobene und absurd-liebliche Kreaturen, die zum Schmunzeln einladen. Darüber hinaus durchzieht die Texte ein feinsinniger Humor, bestenfalls mit Loriot, sicher aber auch in seiner Absurdität mit den Romanen eines Walter Moers vergleichbar. Passend zum Sujet fällt der sfarsche Klang um einiges depressiver aus – mal absurd, mal albern, immer wieder erstaunlich tiefgründig. Dazu gesellt sich eine faszinierende Bilderschwermut. Bereits der Vampir Ferdinand fällt durch seine traurige Flugart auf, die Beine immer traurig, gar lustlos, angewinkelt. Neben Zeichenstil und Humor heben sich die Geschichten des Philosophen Sfar aber auch durch massenhaft Querverweise zur Weltliteratur, Musik-, Kunst- und Filmgeschichte von anderen Comics ab, denn was für Jodorowsky L’Incal verkörpert, ist für Sfar der Grand Vampir: Dreh- und Angelpunkt eines eigenständigen, selbstgeschaffenen Universums, dem Land der Phantome. Einer Welt, irgendwo zwischen Gainsbourg, Kafka, Carroll, Murnau, Klimt, Lang und Rollin. Ein Streifzug durch die Kunstwelt Frankreichs, den literarischen und filmischen Horror und nicht zuletzt den tiefromantischen Werken eines Jean Rollin, 3 dessen gesamte künstlerische Maßgabe immer wieder zum Vorschein tritt. Vampir gehört zu den großartigen, bemerkenswerten Werken der Literatur, ein überragender Comic wie er nur aus Frankreich stammen kann. Es ist an der Zeit, dass Joann Sfar auch hierzulande zu Anerkennung findet.
Wir hören dazu: Pierre Raph – Le Rose De Fer (Finders Keepers Records).
Wir schauen dazu: Friedrich Murnau – Nosferatu (Universum Film), Jean Rollin – Lèvres de Sang (Redemption / Kino Lorber)
Erschienen im Avant-Verlag, wo es auch eine Leseprobe gibt.
Gebunden, 214 Seiten. Ca. 30 € [D]
ISBN 978-3-939080-74-9
Anmerkungen:
Hinweis: Alle Artikel wurden mir von der entsprechenden Plattenfirma / dem entsprechenden Verlag bzw. Verleih zwecks Rezension kostenlos zu Verfügung gestellt. Die Rezensionen sind demnach als Werbung zu betrachten. Werbung: Wenn dir der Artikel gefällt, wirst du mein Buch lieben: The Beach Boys - Pet Sounds
Wer ich bin: Ich schreibe Bücher, forsche zur Massenkultur (Comics!), komponiere, liebe Musik & bin hoffnungslos franko-/italophil.
Woran ich glaube: Wir sollten im Leben danach streben, Narren zu sein. Immer auf der Suche, niemals am Ziel, von Neugier getrieben, mit offenen Augen, Ohren & Geist durch die Welt gehend.