Kompilation: Das Deutsche Chanson und seine Geschichte(n) – 100 Jahre Brettlkunst (Vol. 1-4)

Chanson

Bei Bear Family Records werden keine halben Sachen gemacht. Wir wissen das nicht erst seit der überaus gelungenen Caterina-Valente-Box oder den tollen Raritätensamplern, die ich hin und wieder bespreche. Das Deutsche Chanson und seine Geschichte(n) reiht sich ein in eine tolle Serie von Veröffentlichungen, die überaus liebevoll gestaltet wurde und neben 305 Chansons auch 4 dicke Booklets (eher kleine Bücher) mit Songerläuterungen, Künstlerbiografie etc. vorweist. Die 12 CDs sind dabei in vier Sets aufgeteilt, jedes dieser Sets ist in drei CDs unterteilt, die jeweils einem anderen Thema folgen. So findet sich neben allerlei deutschen Chansons auch eine CD (Chansons aus dem Mutterland des Chansons und mehr), die sich hauptsächlich mit französischen Liedern befasst: Yvette Guilbert, Charles Trenet, Yves Montand, Edith Piaf etc, darunter auch Stücke von 1911, also wirklich seltene Aufnahmen, die unbedingt bewahrt werden müssen. CD 2 widmet sich den Wurzeln des Chansons in Deutschland, also Moritaten und Freiheitslieder. Hannes Wader, Peter Rohland, Wolfgang Neuss, Claire Waldoff oder Hein & Oss – sie alle sind mit Interpretationen von traditionellem deutschen Liedgut vertreten, das hauptsächlich auf Jahrmärkten oder in Kneipen gesungen wurde (Lieder, die man in der Wandervogelbewegung wiederentdeckte). Somit ist auf den ersten beiden CDs ein Grundstein gelegt, um die hiesige Form des Chansons verstehen zu können. Als dritte CD werden die frühen Jahre abgedeckt, also die Zeit von 1908 bis 1929. Bertolt Brecht, Otto Reuter, Walter Steiner udgl mehr. Das zweite Set der Serie befasst sich mit den goldenen Jahren sowie dem Nationalsozialismus, also dem Zeitraum von 1926 bis 1942. Der Chanson ist in diesen Jahren erst frech, dann bieder und z. T. auch subversiv. Neben Marlene Dietrich, Lale Anders, Zara Leander und Theo Lingen finden sich auch Sänger, die heute längst vergessen sind. Die Rarität An allem sind die Juden schuld von Annemarie Hase, ein Chanson, der bereits 1932 entstand, es aber nicht über eine Testpressung hinaus schaffte, rundet das Set perfekt ab, dreht es sich hier doch um ein Lied, das den Irrsinn des Antisemitismus thematisiert und dessen Interpretin 1936 gezwungen ist, ins Londoner Exil zu gehen. Das dritte Set dokumentiert auf der ersten CD Neuer Anfang die Schwierigkeit, die nach der versuchten Zwangsideologisierung des Volkslieds, der Negierung sämtlicher Lieder abseits einer Wald- und Wiesenthematik und dem Zwang zum NS-konformen Nichtigkeitsschlager in der Liedermacherszene zu finden war. An einem Neuanfang versuchen sich  u. a. Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Caterina Valente, Udo Jürgens, Esther Ofarim, Trude Herr, Hanns Dieter Hüsch uvm. Was sich aus dieser Rauferei mit der Vergangenheit zu entwickeln vermochte zeigen die neuen Wege der Liedermacher, die auf CD 8 (West) und 9 (Ost) präsentiert werden. Es sind die Lieder der Eltern meiner Generation, die Sänger, die in den 1960er und 70er Jahren Protestsongs schrieben. Franz Josef Degenhardt, Klaus Hoffmann, Konstantin Wecker – aber auch Milva, Alexandra und Johanna von Koczian verkörpern diese Zeit. Das Chanson findet zu alter Form zurück, greift vermehrt zu politischen Themen und leistet einen Teil der Vergangenheitsbewältigung, blickt aber vor allem auch in die Zukunft. Wenn etwa Johanna von Koczian scheinbar naiv: „Das bisschen Haushalt mach sich von allein, sagt mein Mann / Das bisschen Haushalt kann so schlimm nicht sein, sagt mein Mann“ singt, zeigt sich hier unter dem Deckmantel des Schlagers, welcher gesellschaftlicher Umbruch die 1970er Jahre mit sich brachten. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Juliane Werdings (übrigens von Gunter Gabriel geschriebenes) Wenn du denkst du denkst dann denkst du nur du denkst. Ebenso erstaunlich: Helen Vita. Dass sie immer wieder wegen unsittlicher Texte verklagt wurde, erscheint in der heutigen Zeit weitaus skandalöser als ihre Songs selbst.

Zwischen den 1980er und 1990er Jahren wird zu Beginn des letzten Sets ein kleiner Schnitt vollzogen. Die CD Über Grenzen präsentiert Franzosen, die Deutsch, aber auch generell ausgewanderte Deutsche, die in ihrer Muttersprache singen etc. wie z. B. Adamo, Hazy Osterwald, Peter Horton, Georg Kreisler (mit dem großartigen Frühlingslied [Tauben vergiften] – auf CD 11 findet sich i. Ü. eine wunderbare Parodie von Die Popette Betancor mit dem Titel Tauben grillen), Marianne Mendt, Ludwig Hirsch oder Gilbert Bécaud. Die letzten CDs repräsentiert abschließend die Jahre nach der Wiedervereinigung (warum sich hier ausgerechnet die Comedian Harmonists finden: Der damals immens erfolgreiche Film wird im Booklet als Höhepunkt der 20er-Jahre-Retrowelle der 1990er gewertet) sowie Parodien. Neben Element Of Crime, den Puhdys und Rosenstolz findet man folglich auch Helge Schneiders Konstantin Wecker Parodie (Und da stehen sie wieder in Zweierreihen vor der) Pommesbude (und warten auf das, was ihnen gebührt). Mit CD 12 ist der Hörer schlussendlich im neuen Jahrtausend angekommen. Ein gelungener Querschnitt durch die aktuelle Musikszene mit Jan Delay, Wir sind Helden, aber auch Kitty Hoff, Queen Bee, Maybebop sowie Götz Alsmann. Einzig Barbara Schöneberger wirkt deplatziert, gibt es doch sehr viele bessere und/oder bekanntere Interpreten, die für das deutsche Chanson stellvertretend stehen wie z. B. Annett Louisan. Ich persönlich vermisse übrigens Sebastian Lohse, dessen Lieder sich auf dem Sampler perfekt einfügen würden.

Das Deutsche Chanson uns seine Geschichte(n) – 100 Jahre Brettlkunst (Vol. 1-4) bietet einen umfassenden Blick auf das Lied in Deutschland. Eine Sammlung, wie sie bereits sehr lange überfällig war. Nahezu alle wichtigen Interpreten sind hier vertreten, ihre Biografien sowie liedrelevante Informationen werden in den insgesamt mehr als 700 Seiten umfassenden Booklets ausgiebig dokumentiert. Hinzu muss festgehalten werden, dass in der Regel die größten Hits der Interpreten verwendet wurden. Ein enormes, kulturhistorisches Dokument, die perfekte Ergänzung zu den Bear-Family-Sets Für wen wir singen Vol. 1 – 4 und Da machste was mit 100 Jahre Kabarett 1901 – 2001.

Set 1 bis 4 erschienen bei Bear Family.

Subjektiv: [xrr rating=5/5] Objektiv: [xrr rating=5/5]

Hinweis: Alle Artikel wurden mir von der entsprechenden Plattenfirma / dem entsprechenden Verlag bzw. Verleih zwecks Rezension kostenlos zu Verfügung gestellt. Die Rezensionen sind demnach als Werbung zu betrachten.
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