Comics haben in Deutschland, historisch betrachtet, einen schweren Stand. Der Schmutz- und Schundkampf der Kaiserzeit und nicht zuletzt die Kulturpropaganda der NS-Zeit, die den Comic als rückständiges Medium ablehnte, sind noch bis in die Nachkriegszeit hinein zu spüren. Bis weit in die späten 1980er Jahre verteufelt, fand der Comic erst in den letzten 20 Jahren zu zaghaftem Ansehen. Besonders einige Graphic Novels, in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen (FAZ, NZZ, SZ) mit Lob überschüttet, erfuhren eine erhebliche Aufwertung. Jedoch, so das Ergebnis der Forschungen Stephan Ditschkes, sind Comics noch weit davon entfernt, tatsächlich anerkannt zu werden, denn nicht der Comic an sich wird legitimiert, sondern nur die Anomalie unter den Comics. Man könnte die Behauptung aufstellen, dass sich die Definitionsmacht vom Lehrer (die Träger der Schmutz- und Schundkampagnen) zum Feuilletonisten verschoben hat. Aus diesem Grund muss ein Comic, der im Rahmen der Süddeutschen Zeitung Bibliothek herausgegeben wird, kritisch betrachtet werden. Sammlungen wie diese erinnern nur zu gut an die Romanbibliotheken der Kaiserzeit, die ein Versuch waren, den Kolportageheften Einhalt zu gebieten und dem Rezipienten vorzuschreiben, was er zu lesen habe.
Diese Umstände ändern jedoch wenig daran, dass es sich bei Marc-Antoine Mathieus Gott höchstselbst um einen äußerst gelungenen Vertreter des Mediums handelt. Während einer Volkszählung (wo auch sonst?) gibt sich ein alter Mann mit Rauschebart als Gott zu erkennen. Zuerst verhöhnt, anschließend eingehend geprüft und nach vollbrachten, physikalischen Wundern schließlich medial ausgeschlachtet, verklagen immer mehr enttäuschte Menschen den Allmächtigen. Denn trotz seiner Ankunft auf der Erde ändert sich nichts. Die Menschen führen weiterhin Kriege, es herrscht Armut usw. usf.
Mathieu erzählt seine Geschichte aus einer interessanten Perspektive: Er drängt den Leser in die Rolle des Konsumierenden – der er in letzter Konsequenz auch ist, denn er ist es, der den Comic in der Hand hält. In Form medialer Ausschnitte – als Comic, als Film, als Dokumentation etc. – folgt der Rezipient nun dem medialen Umgang mit Gott. So nimmt die Geschichte die Form einer Dokumentation an, was hervorragend funktioniert. Immer wieder bricht Mathieu Szenen auf, um zu zeigen, dass es sich beim soeben Gelesenen/Gezeigten nur um den Teilausschnitt eines Mediums handelt, der wiederum die Geschichte von Gott erzählt. Gott selbst, so erfährt man, wird zum Spielball eines Medienapparats, erhält PR-Beratung, es werden Comics über ihn verlegt („Großartig. Jetzt werde ich schon auf eine Comicfigur reduziert!“ S. 65, Panel 5), Gott wird Mittelpunkt eines Theaterstücks, er schreibt Bücher, was dazu führt, dass Buchhandlungen einzig seine Werke führen („Memoiren – Auszüge, Offenbarungen, Was ist glaube, Ist der Mensch gut?, Der Prozess, Mein Leben – Mein Werk, Würfeln“ S. 80 Panel 4), es wird ein Vergnügungspark errichtet, der den Menschen lediglich Erlösung vom Materiellen (also vom Geld) bietet etc..
Besonders sticht jedoch eine so einfache wie geniale Szene hervor: Auf einigen Seiten erklärt der Raumpfleger Hermann Bilge den freien Willen und den Zusammenhang mit der Kausalität. So erläutert Gott höchstselbst immer wieder und mit wenigen Worten, die wichtigsten Fragen zu Gott und dem Glauben, dem Sein und dem Universum. So gelingt es dem vor allem durch Kafka geprägten Mathieu mit einem Comic, ähnliche philosophievermittelnde Wirkung zu erzielen wie Jostein Gaarder in seinen Büchern, wenn auch relativ oberflächlich. Bezogen auf das recht kompakte Medium ist diese Leistung jedoch mehr als nur bemerkenswert.
Für die theoretische Comicforschung hat Gott höchstselbst ebenfalls eine Menge zu bieten. Der erzählerische Kniff, nur von Gott, aber nicht über Gott zu berichten, gelangt in den Momenten zur Perfektion, in denen die Erzählung aufgebrochen wird, der Protagonist eines Theaterstücks über Gott seiner Wut über seinem Comicalterego Luft verschafft oder sich im Kapitel Sensation der Zeichenstil radikal wandelt, bis sich die Zeichnungen vom Leser entfernen und deutlich wird, dass es sich in diesem Kapitel um einen Comic im Comic handelt. Und dann gibt es da noch die Stelle, in der sich plötzlich die Panelleserichtung ändert, aus mehreren Panels eine Denkblase entsteht.
Gott höchstselbst.
Süddeutsche Zeitung Bibliothek (Original bei Reprodukt).
Gebunden, 121 Seiten. Ca. 15 € [D]
ISBN 978-3-86497-002-3
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Wer ich bin: Ich schreibe Bücher, forsche zur Massenkultur (Comics!), komponiere, liebe Musik & bin hoffnungslos franko-/italophil.
Woran ich glaube: Wir sollten im Leben danach streben, Narren zu sein. Immer auf der Suche, niemals am Ziel, von Neugier getrieben, mit offenen Augen, Ohren & Geist durch die Welt gehend.