Charisma / Emi
The Lamb Lies Down On Broadway / Fly On A Windshield / Broadway Melody Of 1974 / Cuckoo Cocoon / In The Cage / The Grand Parade Of Lifeless Packaging / Back In N.Y.C / Hairless Heart / Counting Out Time / Carpet Crawlers / The Chambers Of 32 Doors / Lilywhite Lilith / The Waiting Room / Anyway / Here Comes The Supernatural Anaesthetist / The Lamia / Silent Sorrow In Empty Boats / The Colony Of Slippermen (The Arrival, A Visit To The Doctor, Raven) / Ravine / The Light Dies Down On Broadway / Riding The Scree / In The Rapids / It // DVD Extras: Reissues Interview 2007 / Melody – French TV 1974
- Pressefoto Genesis, 1975
Zugegeben, es ist gemein eine Kritik über einen Tonträger zu schreiben, der in dieser Form nur als Teil eines sehr teuren Boxsets veröffentlicht wird. Selbstverständlich gibt es das ganze auch als CD, die ist aber nicht Remastered, nicht in 5.1 Surroundsound und vor allem nicht so schön aufgemacht. Ich kann so oder so nur raten, die 112€ zu investieren, und sich das Set mit den 6 SACDs und DVD-Audios zu kaufen, da es sich bei dieser Kollektion um DIE Veröffentlichung des progressive Rock handelt.
Aber erst einmal zur Verpackung. Die Original LP wird wunderbar auf Digipakformat übertragen. Ein sehr schön aufgemachtes Buch mit der einleitenden Geschichte und allen Songtexten Peter Gabriels liegt vor, dazu die tollen Fotos. Die Tonträger stecken in Papplaschen, was nicht so toll gelöst ist, da sie bei unsachgemäßem Gebrauch leicht verkratzen können. Wie man schnell erkennt, handelt es sich hier um ein typisches 70er Jahre Konzeptalbum, das allerdings weder Überlängen aufweist noch sonst irgendwie aufgeblasen wirkt. 1975 klingen die begnadeten Engländer amerikanischer als jede andere Progressiverockband. Die Handlung ist verschachtelt ohne Ende, ich selbst habe Jahre gebraucht und muss mir das ganze zwei Mal live ansehen (von The Musical Box aus Kanada gecovert – die sich auch bei der Entstehung des Bonuscontents der DVD-A beteiligt haben, denn sowohl die Reihenfolge der Dias als auch die Bühnenshow musste mangels fehlendem Filmmaterial per Zeugenaussagen rekonstruiert werden) um es wirklich begreifen zu können. Der junge Immigrant Rael wird in der New Yorker U-Bahn von einer weißen Wolke umhüllt und findet sich in einer Parallelwelt wieder, in der es allerlei seltsame Abenteuer zu bestehen gilt. Es treten auf: Lamien, Übernatürliche Anästhesisten sowie andere verrückt Ärzte, entstellte Hodenmänner, die lilienweiße Lilith, ein penisklauender Rabe, Raels Bruder John uvm. Ein kleiner Deutungshinweis: Wie bei „Suppers Ready“ (vom Album „Foxtrott“) handelt es sich hier um ein religionskritisches Werk, an dessen Ende die Erlösung des Helden durch Nächstenliebe und Selbstaufopferung steht.
Zur Musik. Erst einmal sei zu sagen: The Lamb klang nie so luftig, so perfekt, so atemberaubend. Die Steigerung zur SACD ist nur noch die DVD-A mit den Livedias. Es ist schon erschreckend, wenn die Hodenmänner plötzlich aus den Surroundlautsprechern zum Hörer sprechen. Peter Gabriel Stimme ist verdammt gut gemischt und auch Collins Schlagzeug klingt endlich nicht mehr wie im Pappkarton aufgenommen. Steve Hackett kann man plötzlich deutlich raus hören, Tony Banks ist noch präsenter und der Rutherford Mike wummert ohne Ende. Da soll noch einer sagen, dass der untalentiert sei! Das erste Highlight der SACD ist „Fly On A Windshield“. Das ganze knallt ohne Ende. Diese Basslinie! „In The Cage“ konnte eigentlich nicht mehr gesteigert werden, aber diese Überarbeitung ist grandios. Nur Live ist es besser. „Hairless Heart“ lässt völlig neue Spuren erkennen; nun bekommt man die Gänsehaut gar nicht mehr weg. Das Ganze ist so schön, dass man weinen möchte. Beim ersten Mal des Hörens habe ich den ganzen Tag nur noch vor mich hin gegrinst. So glücklich war ich nicht mehr seit der Geschichte mit dem goldenen Buddha vor ein paar Jahren (kleiner Tipp: niemals irgendetwas mit Hippies essen und/oder trinken). „The Chambers Of 32 Doors“ ist das finale Stück der ersten SACD. Ein wummernder Bass, Phil Collins an der High Hat, sphärische Gitarrenklänge, eine leise Orgel im Hintergrund. Gabriel singt über Verzweiflung und zum ersten Mal kommt seine „Back To The Country“ – Mentalität durch, die dann bald einer der Gründe sein wird, der zum Ausstieg bei Genesis führen soll und ihn ein paar Jahre auf dem englischen Land Mohrrüben und Kartoffel züchten lässt. Jedes mal, wenn ich diese Stelle höre, kann ich es kaum erwarten, die zweite SACD einzulegen (von daher ist die DVD-A eine bessere Wahl, da ist alles auf einer Disc). Das Stück ist so verdammt inspiriert! Jeder Musiker wäre froh über so ein Stück aus eigener Feder.
„Liliwhite Lilith“ hat im neuen Mix aufheulende Gitarren! Die konnte man im Originalmix nie hören. Überhaupt klingen gerade die rockigen Stücke so dermaßen differenziert. Es ist eine Schande, dass die CD über 30 Jahre auf diesen Mix warten muss. Sogar Phil Collins Backgroundgesang ist zu hören. Es folgt der Genesisübersong. „The Waiting Room“ polarisiert Fans und Kritiker gleichermaßen. Die einen halten es für uninspirierte Effekthascherie, die anderen für genial. Der klassisch ausgebildete Musiker (oder der Klassik nahe Musiker im Allgemeinen) weiß: Hier liegt ein gutes Stück Neuer Musik vor. Im 5.1. Modus bimmelt und klirrt es aus allen Lautsprechern. Auch im Gesamtkontext der Geschichte ist dieses Stück wichtig, denn an diesem Punkt bricht die Welt im wahrsten Sinne des Wortes in sich zusammen. Ihr müsst euch dazu mal die Bühnenshow anschauen. Sobald die Erde einstürzt, wird man von enorm hellen Scheinwerfern geblendet und ist umgeben von wunderbar arrangiertem Lärm. Dazu noch diese lyrische Gitarre… oder ist es ein Synthesizer? So genau will ich mich da nicht festlegen. Auf jeden Fall ist es wunderschön, nahezu Weltfremd. Es folgt ein Stück aus der Anfangsphase der Band (das weiß der Fan seit der Veröffentlichung des Boxset, wo ein unveröffentlichtes Tape aus den Anfangstagen der Band als Bonus beiliegt). Lediglich der Text ist damals sexueller orientiert. Die ganze Sache steigert sich ins dramatische. Ungebildete Musiker würden sagen wagnerisch – aber das ist dann noch mal eine ganz andere Sparte (obwohl Genesis die einzige Band ist, die auch nur im Entferntesten an Richard Wagners Perfektion heranreicht). Emotionale Verzückung bahnt sich ihren Weg durch endlose Gänsehautschichten. Habe ich schon erwähnt, dass ich diese Band aus den tiefen meines Herzens liebe? Ganz allgemein ist zu sagen, dass die SACD Nr. 2 die emotionalere ist. Kritiker beschreiben sie oft als langweilig, das ist allerdings ein völliges Fehlurteil. Stücke wie The Lamia bezeugen einfach meine Vermutung, dass Negativurteile gegenüber Genesis meist auf einer bedingungslosen Liebe zum Punk und einem damit fast immer zwangsweise einhergehendem Generalhass auf Progressiverock und/oder Phil Collins basieren. Ich könnte nun Fortfahren und jedes einzelne Stück loben, aber ich möchte nur noch ein paar Worte zu „The Colony Of Slipperman“ verlieren. Die Hälfte von dem, was hier in 8 Minuten passiert ist mehr, als alles, was so manche Band in einer ganzen Karriere verbrät. Aber das kennt man ja von Peter Gabriel und Co. Es ist einfach Wahnsinn, was man mit analogen Soundbasteleien, Synthesizern, Gitarren und einem übertalentiertem Schlagzeuger so alles anstellen kann. Dazu noch ein wenig Brian Eno und übrig bleibt purer Perfektionismus. Zum Schluss dann doch noch eine Anmerkung zu „Riding The Scree“: Das Stück wartet mit einer wahnsinnigen Synthesizerlinie auf. So schnell ist sonst eigentlich nur noch Rick Wakeman (der sich aber so gut wie immer in der Klangfarbe vergreift – ein Phänomen, das Tony Banks völlig fremd zu sein scheint).
Nach 80 Minuten ist die DVD-A (bzw. SACD oder LP) dann vorbei. Wer das Ganze im neuen Mix immer noch nicht mag, wird wahrscheinlich nie mit diesem Album warm werden. Eins kann ich aber versprechen: Besser kann es nicht klingen, ein schöneres Album gibt es womöglich in der ganzen Popgeschichte nicht. Hier ist das Wort „Meisterwerk“ mehr als angebracht.
Subjektiv 5/5
Objektiv 5/5
Im Video sind The Musical Box aus Kanada zu sehen. Die 75er Tour wurde nie komplett gefilmt.
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Wer ich bin: Ich schreibe Bücher, forsche zur Massenkultur (Comics!), komponiere, liebe Musik & bin hoffnungslos franko-/italophil.
Woran ich glaube: Wir sollten im Leben danach streben, Narren zu sein. Immer auf der Suche, niemals am Ziel, von Neugier getrieben, mit offenen Augen, Ohren & Geist durch die Welt gehend.